Blind verstehen
Meist kommen blinde und sehbehinderte Studierende alleine zurecht brauchen sie dennoch Hilfe, bekommen sie sie bei einem Studienzentrum an der Universität Karlsruhe -von Martina Schäfer
Es ist kurz vor zwölf Uhr, und die Studierenden der Universität Karlsruhe drängeln sich durchs Foyer des Mensagebäudes. Geröstete Maultaschen stehen an diesem Montag auf dem Speiseplan, außerdem Hähnchen-Curry. Wo es Schweineschnitzel mit Tomatensoße und Tortellini mit Reibekäse gibt, ist die Schlange der Wartenden besonders lang. Einige unterhalten sich über Stochastik, andere über das vergangene Wochenende: „Was war los?”, will einer wissen. „Nichts besonderes”, sagt ein anderer. Ein Klirren ist zu hören, es klingt, als sei Besteck auf den Boden gefallen. Jemand pfeift, die Melodie ist nicht zu erkennen.
Heinrich Niehaus steht mittendrin und ist still. Erst als er dazu aufgefordert wird, steigt er die Treppe zur Theke hinauf. Vorsichtig tut er das, nimmt eine Stufe nach der anderen und wirkt dabei ein wenig steif. Seit seinem 15. Lebensjahr ist Heinrich Niehaus blind. Nachdem Ärzte ihm als Neunjährigem wegen eines Tumors das linke Auge entfernt hatten, verlor er auch sein rechtes, konnte keine Farben mehr erkennen, nicht mehr Fußball spielen und Rad fahren. Es wurde dunkel um ihn.
Inzwischen ist Heinrich Niehaus 23 und kann eine Menge: Er studiert im achten Semester Wirtschaftsingenieurwesen, die meisten Pflichtveranstaltungen hat er hinter sich, ein Praktikum in Hamburg auch, der Auslandsaufenthalt steht noch bevor. Heinrich Niehaus möchte nach Kanada, auf jeden Fall irgendwohin, wo Englisch gesprochen wird. Angst hat er davor nicht: „Das klappt schon”, sagt er und stellt sein Tablett auf einem Tisch ab: Der Teller mit dem Schnitzel steht in der Mitte, die Schüssel mit dem gemischten Salat links davon, die mit den Pommes rechts. Heinrich Niehaus greift danach, so orientiert er sich.
Wo Sehenden ein Blick genügt, macht er einen Handgriff, tastet mit dem Blindenstock, horcht auf Geräusche und Stimmen. Manchmal bittet er Freunde um Hilfe, Kommilitonen oder die Mitarbeiter vom Studienzentrum für Sehgeschädigte (SZS) der Universität. Sie unterstützen Blinde und Sehbehinderte vor allem beim Studium von Natur-, Ingenieurs- und Wirtschaftswissenschaften. Bei den Studiengängen also, in denen es nicht damit getan ist, Vorträge der Professoren auf einem Tonbandgerät aufzunehmen. Bei denen es um Karten geht, um Grafiken und Kurven.
Kompromiss in der Schule
Die haben es Heinrich Niehaus angetan, schon während der Schulzeit. Eigentlich hätte er gerne Mathematik als Leistungskurs gewählt, doch am Gymnasium in Cloppenburg (Niedersachsen) war das nicht möglich. Heinrich Niehaus war der einzige Blinde. Die Sehenden arbeiteten mit Grafiktaschenrechnern, auf denen Parabeln angezeigt wurden. Für Nicht-Sehende gab es das nicht. Auch Chemie konnte er nicht belegen, mit Versuchen hätte er Schwierigkeiten gehabt. Heinrich Niehaus entschied sich deshalb für die Fächer Deutsch und Geschichte, das war ein Kompromiss. Beim Studium musste er keinen eingehen: Wirtschaftsingenieurwesen ist eine Mischung aus Betriebswirtschaftslehre und Informatik, beides mag er.
Im Speisesaal der Mensa wird gesprochen, geklappert und gegessen. Alles gleichzeitig, es ist laut. Doch Heinrich Niehaus lässt sich nicht stören, nach beinahe vier Jahren hat er sich an den Lärm an einer Universität gewöhnt. An die erste Vorlesung kann er sich noch gut erinnern: „Die Geräuschkulisse war krass”, sagt er. Mehrere hundert Studierende saßen im Hörsaal, einige tuschelten, andere raschelten, wieder andere kratzten mit Stiften übers Papier. „Ich habe ein empfindliches Gehör”, erklärt Heinrich Niehaus. Muss er sich auf einen Vortrag konzentrieren, kann das anstrengend sein. Oft hilft es ihm jedoch, zum Beispiel wenn er unterwegs ist. Er hört, ob er sich auf einem offenen Platz befindet oder auf eine Wand zuläuft. „Die Akustik ist anders”, stellt er fest, „sie ist gedämpft”.
Für die Wege zwischen Mensa, Hörsälen, Übungsräumen und Studentenwohnheim reicht das gute Gehör nicht; die zu gehen, hat Heinrich Niehaus mit einem Mobilitätstrainer geübt. Insgesamt 50 Stunden waren sie zusammen unterwegs, erst in der Umgebung des Wohnheims. Sie liefen zur Bank, zum Supermarkt, zur Metzgerei und zum Bäcker. Der Trainer wies den Blinden auf Fahrradständer, Blumenkübel und Pfeiler hin, er führte ihn zum Hauptbahnhof und erklärte ihm die Funktionen der Waschmaschine im Keller des Wohnheims. Dann erkundeten sie den Campus. „Im Hauptstudium ist es wichtig, dass ich mich auskenne”, erklärt Heinrich Niehaus, „weil ich nur noch selten gemeinsam mit Freunden Veranstaltungen besuche.” Er schafft das auch alleine.
Die Selbstständigkeit wollen die SZS-Mitarbeiter Blinden und Sehbehinderten nicht nehmen. Sie bieten ihre Hilfe an, drängen sich aber nicht auf. Wer die Arbeitsplätze im Zentrum nutzen möchte, kann das tun. Es gibt Lesegeräte für Sehbehinderte, zwei Computer mit Braillezeile, auf der die Blindenschrift zu tasten ist, und Scanner. Heinrich Niehaus hat eine eigene Ausstattung, angewiesen ist er vor allem auf die Literatur: Jede Menge Foliensätze und Skripte zu Vorlesungen sind auf einer Datenbank beim SZS gespeichert, dazu etwa 200 Studienbücher in Brailleschrift sogar eines über Algorithmentechnik. Weil dafür viele Grafiken beschrieben werden mussten, hat die Umsetzung in Blindenschrift mehr als ein Jahr gedauert. Geht es lediglich um Texte, brauchen die SZS-Mitarbeiter weniger Zeit.
Gemeinsam über den Campus
Aus der Mensa zu kommen ist einfacher als hinein. Um ein Uhr ist die Treppe zum Ausgang frei, niemand drängelt. Vor dem Gebäude trifft Heinrich Niehaus einen Bekannten, der sehbehindert ist, beide kennen sich vom SZS, sie begrüßen sich. „Hallo Heinrich”, sagt der Bekannte, greift nach der rechten Hand des Blinden und schüttelt sie. Sie sprechen über die Fakultät für Informatik, über einen der Professoren. „Seine Stimme klingt, als sei er noch ziemlich jung”, stellt Heinrich Niehaus fest. „Das ist er auch”, erklärt der andere. Er bietet dem Blinden an, ihn über den Campus zu führen. Heinrich Niehaus klappt seinen weißen Stock zusammen und fasst an den Arm des Bekannten. Sie laufen los, unterhalten sich, lachen. Einige Studierende schauen sich nach den beiden um, die meisten beachten sie nicht.
Zwischen 18 500 Frauen und Männern, die in Karlsruhe studieren, fallen sieben Blinde und etwa 40 Sehbehinderte kaum auf. Sie sind mittendrin, Sonderregeln gibt es aber durchaus. Für Prüfungen bekommen sie meist mehr Zeit als Sehende, manchmal werden sie mündlich statt schriftlich geprüft. Das hängt davon ab, was die Sehbehinderten und Blinden benötigen, und davon, was die jeweiligen Professoren wünschen. Denn einen Anspruch auf Ausnahmen gibt es nicht. Im Landeshochschulgesetz steht lediglich, dass „behinderte Studierende in ihrem Studium nicht benachteiligt werden” dürfen. Heinrich Niehaus hat sich während der vergangenen acht Semester mit Professoren und Dozenten stets einigen können. „Am besten ist es, ihnen gleich Lösungen zu präsentieren”, sagt er. Er schreibe Mails oder erkläre in Sprechstunden, in welcher Form er Literatur benötige. „Schon während der Schulzeit habe ich gelernt, meine Interessen zu vertreten”, sagt er: „An der Uni, diesem riesigen Laden, hilft mir das.”
In seinem Appartement nahe dem Campus, in das er vor einiger Zeit gezogen ist, sind es kleine Hilfsmittel, die ihm das Leben einfacher machen. Plastikringe beispielsweise, durch die er paarweise seine Socken zieht, ehe er sie in die Waschmaschine steckt. So vermeidet er, unterschiedlich farbige zu tragen. Um Kleidungsstücke besser aufeinander abstimmen zu können, möchte er sich bald ein Farberkennungsgerät kaufen. Bislang liegen in seinem Schrank vor allem dunkle Jeanshosen, dunkle Pullover und dunkle T-Shirts. Die Schwester und die Mutter haben sie ihm ausgesucht. An diesem Montag trägt Heinrich Niehaus eine blaue Jeans und ein graues Sweatshirt. Die Farben passen.
Am Arm des Bekannten erreicht Heinrich Niehaus eine Straßenkreuzung außerhalb des Campus‘. Die Ampel ist rot, die beiden warten. Sie orientieren sich an den Geräuschen der Fahrzeuge und an den Signalen der Ampel: Erst als es piept, dumpf und hektisch, überqueren sie Fahrbahn und Straßenbahngleise. Nach wenigen Metern verabschieden sie sich: „Mach‘s gut.” „Du auch.”
Heinrich Niehaus klappt den Blindenstock aus, die letzten Schritte zu seiner Wohnung geht er allein. Das ist eine seiner leichtesten Übungen.