Erst fühlen, dann rechnen. Heinrich Niehaus ist blind. Trotzdem meistert er ein Studium zum Wirtschaftsingenieur
Marianne Niehaus kennt die verwunderten Gesichter, wenn sie Bekannten erzählt, dass ihr Sohn jetzt in Karlsruhe studiert und Wirtschaftsingenieur werden möchte. »Das will mir keiner glauben«, sagt die Mutter von Heinrich Niehaus. Ob es da eine besondere Schule für Blinde gebe, fragen die Leute und versuchen sich vorzustellen, wie der arme Heinrich mit der getönten Brille und dem weißen Stock durch die Großstadt irrt. 550 Kilometer südlich von seinem Heimatort Peheim bei Cloppenburg.
Auch seine Mutter hat nicht damit gerechnet, dass er mit 19 in ein Studentenwohnheim zieht. Sie habe alles für ihn gemacht, sagt sie, alles aus dem Weg geräumt. Für sie war es unvorstellbar, dass er es allein schaffen würde. Doch vor zwei Jahren, kurz vor Beginn des Wintersemesters, fuhr die Familie nach Karlsruhe, begutachtete das Studentenwohnheim und reiste wieder ab. Ohne Heinrich. Als die Lehrerin Marianne Niehaus am nächsten Tag aus der Schule kam, stürzte sie sofort ans Telefon. »Wie geht es dir, was hast du zu Mittag gegessen?«, wollte sie von Heinrich wissen. »Ich hab keine Zeit«, sagte der, »wir essen gerade.« - »Dieser Satz hat mich wirklich glücklich gemacht«, erinnert sich Marianne Niehaus.
Als Heinrich elf Monate alt war, entdeckten die Arzte einen Tumor auf seiner Netzhaut. Keiner wusste, ob er überleben würde. Der Tumor wurde bestrahlt, ständig musste Heinrich ins Krankenhaus. Nach sechs Jahren erklärten die Ärzte, er sei geheilt. Doch wenig später entdeckten sie einen Folgetumor. Er war neun, als sein erstes Auge entfernt wurde, und trotzdem dachte er: »Jetzt habe ich eben 4 statt 40 Prozent, damit muss ich zurechtkommen.« Trotzig spielte Heinrich weiter Fußball. Er konnte keine Gesichter mehr erkennen, nur noch Farben sehen. Zum Lesen benutzte er ein Vergrößerungsgerät. 15 war er, als auch das nicht mehr ging. Eines Abends saß er unter einer Lampe und konnte gerade noch erraten, ob sie an- oder ausgeschaltet war. Als es nach drei, vier Tagen immer dunkler wurde, wusste Heinrich, dass er blind war.
Sein Abitur wollte Heinrich Niehaus trotzdem machen. Er ging nach Marburg, auf das einzige Blindengymnasium in Deutschland. Aber nach einer Woche wollte er wieder zurück nach Cloppenburg, an seine alte Schule. »Wir haben ihn unterstützt, haben ihm bei den Hausaufgaben geholfen, ihm vorgelesen, die ganze Familie«, sagt seine Mutter. Und er paukte Brailleschrift.
Von der Bezirksregierung wurde ein Lehrer aus Osnabrück geschickt, der ein halbes Jahr an die Schule kam, um Heinrich Niehaus in der Blindenschrift zu unterrichten, während die anderen Sport und Kunst hatten. Mi, Ma, Maus: mit Büchern für Sechsjährige fing es an. Vier Jahre später machte er Abi, seine Leistungskurse waren Physik und Mathematik. Wichtigstes Hilfsmittel war der Laptop mit der Braillezeile. Alles, was für Sehende auf dem Bildschirm erscheint, wandelt sie in Acht-Punkt-Module um, die er ertasten kann. Ein Zivi scannte Tausende Seiten Unterrichtsmaterial ein, und sein Mathematiklehrer zauberte auf ein gummiertes Zeichenbrett Kurven und Diagramme, die Heinrich Niehaus mit seiner Fingerkuppe nachzeichnete und auswendig lernte.
»Er war immer ein guter Schüler. Ja, fast schon ein Überflieger. Sonst hätte er sich nicht auf seiner Schule halten können.« Trotzdem fragte sich seine Mutter irgendwann, was eigentlich nach dem Abi werden solle. Denn Heinrich Niehaus interessierte sich nicht für Jura oder Germanistik. Beides hätte er an jeder Uni studieren können. Es braucht nicht viel mehr als ein Tonbandgerät, um Vorlesungen in diesen Fächern aufzuzeichnen. Er aber wollte endlose Matrizen studieren. Durch Zufall hörte Marianne Niehaus vom Studienzentrum für Sehgeschädigte in Karlsruhe. »Eine Naturwissenschaft kann man heutzutage auch blind studieren«, behauptete der Sozialpädagoge Joachim Klaus schon vor zwölf Jahren, als er das bundesweit erste Studienzentrum für Sehgeschädigte (SZS) gründete. Für jeden Studenten, der Mathematik, Biologie, Chemie oder irgendeine Ingenieurwissenschart studieren will, richtet das Zentrum in Karlsruhe einen Arbeitsplatz ein, der ihm das ermöglicht. Dazu gehört der Computer mit Braillezeile, aber auch der Screen-Reader, der über Lautsprecher die Position des Cursers beschreibt und erklärt, welche Fenster sich auf dem Bildschirm öffnen. So können die Studenten ins Internet und mailen. Mit dem Scanner werden Skripte und mathematische Formeln auf Diskette übertragen, und der Brailledrucker stanzt auch die kompliziertesten Grafiken so ins Papier, dass sie ertastet werden können. Die Kosten übernimmt der Landeswohlfahrtsverband, pro Arbeitsplatz 25 000 Euro. Es war ein harter Kampf für Joachim Klaus, die Finanzierung zu sichern, »obwohl wir nur einmalig Geld investieren und einen Studenten dann für sein ganzes Studium ausrüsten«. Inzwischen ist das SZS zu einer festen Institution geworden, das auch an der technischen Weiterentwicklung von Hilfsmitteln arbeitet.
Heinrich Niehaus musste in Karlsruhe nichts im Alleingang organisieren oder beantragen. Als er kam, hatte das SZS schon für jeden der fünf bis sechs sehgeschädigten Studenten, die pro Semester anfangen, alle notwendigen Orientierungshilfen parat. »In den ersten Tagen hat mich sogar ein Mobilitätstrainer zum Metzger, zur Bank und zum Bahnhof begleitet. So konnte ich bestimmte Hörbilder entwickeln.« Heinrich Niehaus erkennt zum Beispiel, weil sich der Schall verändert, wann ein Haus anfängt oder zu Ende ist. Trotzdem meidet er die Fußgängerzone in Karlsruhe. Sich dort mit dem Blindenstock zu bewegen sei unmöglich. Überall stehen Tische, die Häuserfronten reißen nicht ab. »Da findet man eigentlich nur die Eingänge von Dönerbuden. Die riecht man.«
Das Vordiplom hat er fast in der Tasche, drei Prüfungen fehlen noch. Zum Lernen trifft er sich mit Kommilitonen aus seinem Fachbereich. Außer ihm können in seiner »Clique« alle sehen. Die Clique hilft ihm, wenn Dozenten in den Vorlesungen Grafiken einfach nur mit dem Overhead-Projektor vorführen, ohne sie zu erläutern. Seine Freunde haben inzwischen gelernt, wie man Kurven verbalisiert: Es gibt eine internationale Mathematikschrift, mit der man Exponenten, Wurzeln und Brüche linear notiert, sodass sie auch mit der Braillezeile erfasst werden können. Ein Integral wird dann nicht als Schlangenlinie dargestellt, sondern mit dem Schlüsselwort »int« benannt. Für Prüfungen paukt Heinrich Niehaus, indem er Klausuren aus den vergangenen Semestern rechnet. Dafür braucht er jemanden, der ihm die Aufgaben vorliest. »Die alten Sachen liegen ja nicht eingescannt vor.«
Wer mit ihm für Klausuren paukt, profitiert davon, dass Heinrich Niehaus Zusammenhänge oft schneller begreift als andere. Da er nur eine Zeile ertasten kann, hat er ein gut trainiertes Gedächtnis. »Bei Matrizenrechnungen ist es zum Beispiel wichtig, dass man jede Rechenzeile im Blick hat. Da ich die nicht auf dem Bildschirm erkennen kann, muss ich mit meiner Braillezeile immer hin und her springen. Das ist sehr anstrengend.« Also versucht er, sich so viele Rechenschritte wie möglich zu merken. Während es sich seine Kommilitonen leisten können, Studien und wissenschaftliche Texte immer wieder durchzuarbeiten, liest er sie höchstens zweimal. »Ich brauche einfach zu viel Zeit, um einen Text zu lesen. Ich kann ihn ja nicht überfliegen wie jemand, der sehen kann.« Aber auch seine Merkfähigkeit und Vorstellungskraft hat Grenzen. So könne er zum Beispiel nie im Fahrzeugbau arbeiten, weil dort alles zu grafisch ausgerichtet sei. Telematik, also die Verbindung von Telekommunikation und Informatik, wäre dagegen machbar. »Mobilfunk zum Beispiel, das wäre ein Ziel. Wie das technisch funktioniert, finde ich spannend.«
Im Studentenheim teilt er sich seit zwei Jahren eine WG mit drei sehenden Studenten. »Wäre ja auch schön blöd, wenn die blind wären.«
Trotzdem ist er nicht auf sie angewiesen. An den Herd hat er einen Markierungspunkt geklebt, damit er die 220 Grad zum Pizzabacken immer wieder findet. Und um nicht ständig mit zwei verschiedenfarbigen Socken durch die Gegend zu laufen, zieht Niehaus sie vorher paarweise durch kleine Plastikringe, die sie in der Waschmaschine zusammenhalten. Bevor er kochende Nudeln von der Herdplatte nimmt, ertastet er sich den Topf mit einem Holzlöffel, damit er sich nicht die Hände verbrennt. Meistens trägt er dunkle Hosen, schwarz oder blau, T-Shirts und Hemden so abgestimmt, dass er nichts falsch machen kann, egal, wonach er greift. »Meine Mutter und meine Schwester beraten mich beim Klamottenkauf.« Er wolle kein perfekter Blinder sein, der alles allein macht, sagt er. Lieber bitte er um Hilfe und verzichte dafür auf weniger. Auch auf seinen Lieblingssport verzichtet er nicht. Beim nächsten Heimspiel des HSV möchte Niehaus unbedingt in der Fankurve stehen. »Ich brauche nur noch einen, der das Spiel für mich kommentiert.«